„Was wäre, wenn die Legenden der modernen Marvel-Helden bereits vor über 400 Jahren im Elisabethanischen Zeitalter ihren Anfang genommen, ihre Entsprechungen gefunden hätten? In einer ebenso historischen wie fantastischen Alternativwelt werden die zeitlosen Mythen von Nick Fury, Peter Parker, Black Widow, Daredevil, Dr. Strange, den X-Men, Captain America, Dr. Doom und vielen anderen Giganten aus dem Haus der Ideen völlig neu interpretiert.“ – Panini Comcis


„Marvel 1602“, geschrieben von Neil Gaiman und illustriert von Andy Kubert, ist ein faszinierendes Experiment, das die klassischen Marvel-Helden in das elisabethanische England des Jahres 1602 versetzt. Diese kühne narrative Verschiebung bietet eine einzigartige Mischung aus historischem Drama und Superhelden-Action, die sowohl Comic-Liebhaber als auch Fans von alternativen Geschichtserzählungen ansprechen dürfte.

Die anfängliche Schwierigkeit, sich in die komplexe Welt von „Marvel 1602“ einzufinden, wird durch die sprachliche Gestaltung und die Vielzahl an Figuren verstärkt. Dies kann anfangs als Hürde empfunden werden, doch für diejenigen, die sich durchbeißen, offenbart sich ein reichhaltiges und detailverliebtes Universum. Gaiman nutzt geschickt die historische Kulisse, um den bekannten Charakteren neue Tiefe und frische Perspektiven zu verleihen, ohne ihre essentiellen Merkmale zu verlieren.

Die visuelle Gestaltung von „Marvel 1602“ ist bemerkenswert. Kubert und das Kolorierungsteam haben es geschafft, die Seiten wie alte Gemälde wirken zu lassen, was perfekt zum historischen Setting passt. Diese ästhetische Entscheidung verstärkt die Immersion und hebt die Erzählung auf eine künstlerisch beeindruckende Ebene.

Die Verwebung echter historischer Ereignisse und Persönlichkeiten mit den fiktiven Elementen des Marvel-Universums ist eine der großen Stärken des Comics. Die Anspielungen auf die echte Geschichte, wie die Nachfolge Elisabeths I. durch Jakob I. oder die mysteriöse Roanoke-Kolonie, verleihen der Geschichte Authentizität und Tiefgang. Gaiman gelingt es, diese Elemente mit den Abenteuern der Superhelden zu verknüpfen, ohne dass es gezwungen wirkt.

„Marvel 1602“ ist nicht nur eine Hommage an die geliebten Charaktere, sondern auch eine intelligente Untersuchung darüber, wie sich Geschichten anpassen und transformieren lassen, wenn sie in einen völlig anderen Kontext gestellt werden. Die Idee, dass die Zeitlinie versucht, sich selbst zu heilen, fügt eine faszinierende metaphysische Ebene hinzu, die zum Nachdenken anregt und Diskussionen über das Wesen von Geschichte und Schicksal anstoßen kann.

Abschließend bietet „Marvel 1602“ eine einzigartige und anspruchsvolle Leseerfahrung, die sowohl die Grenzen des Superhelden-Genres als auch die der historischen Fiktion auslotet. Trotz anfänglicher Herausforderungen in der Zugänglichkeit belohnt der Comic die Leserinnen und Leser mit einer reichhaltigen, durchdachten Geschichte, die sowohl unterhält als auch zum Nachdenken anregt. Ein Muss für Fans von Neil Gaiman, Marvel-Comics und alternativen Geschichtserzählungen.